REDUZIEREN ALS VERDICHTUNG

Kirstin Arndt, Cécile Dupaquier, Henrik Eiben, CHARLOTTE POSENENSKE, MICHAEL REITER, ROB SCHOLTE, Hamburg
02.06.2017 - 22.07.2017

REDUZIEREN ALS VERDICHTUNG

Das Reduzieren ist eine alltägliche Operation. Es ist uns aus Wirtschaft und Technik, aber auch aus Sprechhandlungen geläufig. Mit wenigen Worten alles zu sagen - ein Ideal schon der antiken Lakonier - ist das Gegenteil des ausufernden Schwatzens. Unsere Welt ist überkomplex und unüberschaubar. Die „Reduktion von Komplexität“, ursprünglich ein Begriff aus der Systemtheorie, ist das, was wir täglich tun müssen, um handlungsfähig zu sein. Wir gewichten. Das heißt, spontan oder kalkuliert treffen wir Entscheidungen auf Basis nur weniger - für uns wichtiger - Variablen. Details filtern wir aus. Das Reduzieren führt zur Verdichtung. Mit anderen Worten: „Less is more“.

Im Prado, Madrid, hängt ein kleines, querformatiges Gemälde von Tizian: zu sehen ist ein diagonal gelegtes Kreuz, in der oberen linken Ecke der Kopf des Joseph von Aremathia, unter dem Kreuz das Gesicht Jesu und seine Hand, die das Kreuz trägt. Und Christus schaut dir direkt ins Gesicht, man fühlt sich betroffen, würde am liebsten hinlaufen und helfen. Nichts sonst gibt es auf dem Bild: keinen Hintergrund, d.h. keinen Himmel, keinen Baum, keinen Vogel. Es gibt keine ablenkenden Details, die es gewöhnlich ermöglichen, sich ein Stück weit zu entziehen. Kein Ausweg. Es ist diese Konzentration auf das wenige Wichtige, die eine so eindringliche Wirkung erzeugt. Das wenige Wichtige zeigt auch Pieter Claesz‘ berühmtes Stillleben in Rotterdam: nur einen Hering, einen Glasbecher Bier und ein Stück Brot - im 17. Jahrhundert die Grundnahrungsmittel der Niederländer.

Die 7. Ausstellung zum Thema „Reduktion“ (die erste in Berlin, die zweite in Köln, die dritte in Frankfurt am Main, die vierte in Antwerpen, die fünfte in Berlin, die sechste in Bonn) zeigt Reduktionen unterschiedlicher Art. Rob Scholte dreht die von holländischen Hausfrauen nach Motiven von Vermeer gefertigten Stickbilder herum, signiert sie und stellt sie aus. Auswählen, herumdrehen, signieren, ausstellen – ganz so wie Duchamp 1917 mit seinem Urinoir verfuhr. Die Arbeitsmethode besteht aus nur vier Schritten. Charlotte Posenenskes (1930-1985) Wandarbeit besteht aus einem grauen Rechteck, das mittels einer einzigen diagonalen Faltung (1966) aus der Fläche in den Raum ragt. Kirstin Arndt zeigt 4 gleiche, einfache Stahlblechwinkel, aufrecht stehend und weiß, von Licht und zartem Schatten umspielt. Michael Reiters „jolly trellis“ mutet entmaterialisiert an: dünne, mit einem Nylonfaden verbundene, geometrisch angeordnete, bewegliche Röhrchen. Cécile Dupaquiers weiße „Tableaus“ heben sich nur durch kaum merkliche lange, flache Wölbungen von der weißen Wand ab, in der sie zu verschwinden scheinen. Henrik Eibens Reliefs dagegen sind auf Grund der Abteilisierung, der Verwendung unterschiedlicher Materialien, der Zerklüftung der Oberfläche und der Mehrfarbigkeit recht komplex. Reduziert erscheinen sie durch eine gewisse Strenge.

Burkhard Brunn